Die Kunst des Singens ist ein Spiel mit sich selbst und anderen, ein Spiel mit den eigenen und den fremden Energien, ein Spiel mit den Songs und den Ausdrucksmöglichkeiten, die in uns stecken.
Als ich 13 war wünschte ich mir eine Gitarre. Ich wollte spielen können, um dazu zu singen....
Es war Anfang der 80er Jahre, es gab noch kein Internet und ich hatte lediglich ein paar Songbooks, hauptsächlich mit Songs, die ich nicht kannte und ein Heftchen mit Akkorden.
Ich bekam die Gitarre und machte mich sogleich daran, nun die Akkorde und das Geschrabbel zu lernen. Stundenlang alleine in meinem Zimmer spielte ich damit herum. Sortierte meine Finger, schrabbelte, sang, sortierte erneut meine Finger usw... In meinen Songbooks standen Texte und Akkordsymbole. Die Gesangsmelodien dachte ich mir einfach selber dazu aus. Oder ich hörte mir von meinen Platten und Kassetten die vermuteten Akkorde heraus, um diese Songs dann spielen und singen zu können.
Der ganze Vorgang war intuitiv, geprägt von Versuch und Irrtum. Ich hatte noch keinen Gesangunterricht gehabt und auch zunächst keinen Gitarrenunterricht. Was ich also nicht konnte machte ich durch furcht-, und hemmungslose Kreativität wett.
Diese intuitive Vorgehensweise hat mich als Sängerin und Künstlerin sehr stark geprägt. Die Möglichkeit, sich an Vorgaben zu orientieren war im Vergleich mit heute minimal und auch in meinen Eltern oder Freundinnen hatte ich keine Vorbilder. Ich hatte eine hübsche Naturstimme und ging der Lust, zu singen einfach ganz unbedarft nach. Natürlich "konnte" ich aus heutiger Sicht heraus noch gar nichts, trotzdem bekam ich Lob von Außen für meine hübsche Stimme und mein Talent.
Etwas zu tun, was man nicht "kann" eröffnet einen großen Freiraum, sich ein ganz eigenes Können selber zu erschließen. Ohne Vorgaben und damit gewissermaßen frei von den Energien anderer. Und somit bin ich ein großer Fan des autodidaktischen Tuns und Lernens und der Improvisation geblieben .
Auch im Gesangsunterricht können diese Freiträume genutzt werden. Wenn SchülerInnen Songs mitbringen, die ich nicht kenne erarbeiten wir diese Songs oft ganz ohne das Original oder Notentext. Einfach aus dem heraus, wie die Schülerin den Song spontan interpretiert entwickelt sich dann auch meine Gitarrenbegleitung, sowie Improvisationen, Adlibs und auch Rhythmik und zweite Stimmen.
Als Lehrerin kann ich dann Im Prozess des Erarbeitens und Lernens gesangstechnische und stilistische "Werkzeuge" für die Umsetzung ins Spiel bringen, die rein autodidaktisch vielleicht nicht zugänglich sind. Um den eigenen Horizont zu erweitern und die Wohlfühlzone zu verlassen braucht es oftmals Impulse und Anregungen aus einer anderen Energie als der Eigenen. Nicht Jede muss das Rad des Singens ganz neu erfinden und ein Profi erkennt eben sehr viel schneller, wo Probleme liegen als der unbedarfte Autodidakt.
Die Gesangstechnik erweitert auf diese Weise die Ausdrucksmöglichkeiten dessen, was autodidaktisch begonnen wurde.
Je mehr technisches Können ich habe desto leichter und intuitiver kann ich meine Emotionen und Klangwünsche in den Songs umsetzen. Ich bin dann nicht länger beschränkt auf meinen natürlichen Ausdruck, ich erweitere meine Sicherheitszone.
Viele Werkzeuge benutzen zu können heißt aber nicht, sie alle immer benutzen zu müssen. Die Auswahl zu haben unterscheidet unter anderem den Profi vom reinen Autodidakten.
Um zur Könnerin zu werden führt der Weg dich vielleicht aus der Intuition und Improvisation durch die "Techniken" und das Erarbeiten und Üben wieder zurück in die Intuition. Jetzt aber ist es eine wissende und könnende Intuition.
Du musst nicht länger auf Ausdrucksmöglichkeiten verzichten, weil du sie nicht kannst, sondern nur noch weil du entscheidest, sie nicht zu brauchen oder zu wollen.
Das "Nicht Können" schränkt ein, führt dich aber bei entsprechend furchtloser Praxis auch zu dir Selber. Aus dem Nicht Können kann so ein ganz eigener Stil und Selbstausdruck entstehen. Bis zu dem Punkt, an dem ich merke, daß ich mich alleine nicht mehr weiterentwickeln kann. Dann braucht es möglicherweise (wieder) Intuition von Außen, sei es durch Unterricht bei einer Lehrerin/Lehrer oder durch Nachahmung anderer KünstlerInnen.
Voraussetzung für diese Art des Lernens ist nicht nur Talent, sondern auch das, was ich "Furchtlosigkeit" nenne oder Flow. Und eine Stimme, die bereits sängerisch "funktioniert".
Wenn das singen noch gar nicht geht braucht es selbstverständlich erst eine stimmbildnerische Grundlage. Ist diese einmal erarbeitet (Kopfstimme, Übergänge, Vokalraumnutzung, Atemverbindung usw) kann es aber losgehen mit dem freien Spiel.
Das muss man gar nicht "üben" nennen, es kann einfach ein "spielen" sein, ein "herumspielen", ausprobieren, sich selbst und die eigene Stimme "erkunden".
Aus dem Nicht Können komme ich in ein ausprobieren, dazu hole ich mir Inspiration und Anleitung von Außen, ich entwickle mein Können (weiter) und münde schließlich wieder ein in die Selbstvergessenheit, den Flow, das Sein und Sein lassen. Das Können gibt mir eine sichere Basis. Auch wenn ich mal einen schlechten Tag habe und den Flow nicht spüre kann ich es abrufen. Und natürlich schützt es mein Instrument, die Stimme, vor Schädigungen.
Idealerweise werde ich so zur Könnerin, erhalte mir aber die Unbedarftheit und Freiheit im Eigenen.